Zweite Kurve, neue Stärke: Wie sich Denken und Erfolg im Lauf des Lebens verändern

Wenn wir über den nächsten beruflichen Schritt in der zweiten Lebenshälfte nachdenken, richten wir den Blick oft auf das, was nicht mehr so gut funktioniert wie früher: Namen fallen uns schwerer ein, Neues zu lernen kostet mehr Energie. Ich plädiere dafür, diese Veränderungen anders zu betrachten: Nicht als Verlust, sondern als neue geistigen Stärke.

Denn unsere Art zu denken, zu lernen und Probleme zu lösen verändert sich im Laufe des Lebens auf faszinierende Weise.

Zwei Formen von Intelligenz – zwei Lebenskurven

In der Psychologie unterscheiden wir zwei Arten geistiger Leistungsfähigkeit: die fluide und die kristalline Intelligenz.

Und diese beiden folgen über die Lebensspanne hinweg ganz unterschiedlichen Verläufen.

Die fluide Intelligenz ist unsere Fähigkeit, schnell zu denken, komplexe Probleme zu lösen und Neues zu erfassen. Sie ist wie ein mentaler Muskel – besonders stark, wenn wir jung sind. Sie erreicht ihren Höhepunkt meist in den Dreißigern oder frühen Vierzigern und nimmt danach langsam ab.

Die kristalline Intelligenz dagegen steht für unser Wissen, unsere Erfahrung und unsere Weisheit, also für das, was wir im Laufe der Jahre aufbauen. Sie wächst stetig, oft bis ins hohe Alter hinein.

Wenn man das auf einem Schaubild sieht, verlaufen zwei Kurven:

  • Die fluide Intelligenz steigt früh steil an und fällt dann langsam ab.
  • Die kristalline Intelligenz steigt gemächlicher, dafür kontinuierlich – und überlagert im späteren Leben die erste.

Das bedeutet: Wir verlieren vielleicht ein Stück Schnelligkeit, gewinnen aber an Tiefe, Überblick und Urteilskraft.

Warum viele auf der falschen Kurve bleiben

Viele Menschen versuchen, auf der ersten Kurve zu bleiben und kämpfen gegen den natürlichen Rückgang der fluiden Intelligenz an. Sie sagen: „Früher konnte ich mir alles merken, jetzt fallen mir Namen nicht mehr ein.“ (Das Training des „mentalen Muskels“ bleibt natürlich wichtig – use it or lose it! – aber es ist nur die halbe Wahrheit.)

Wir neigen dazu, uns auf das Defizit zu konzentrieren, anstatt die Verschiebung der Stärke zu erkennen und zu nutzen.

Die Kunst des Kurvenwechsels

Die eigentliche Kunst besteht darin, rechtzeitig von der fluiden auf die kristalline Kurve zu wechseln – also von der Rolle der brillanten Macherin zur Mentorin, vom Entwickler zum Inspirator, von der Vielarbeiterin zur Leaderin, die Sinn stiftet.

Das ist keine Schwäche, sondern eine neue Form von Erfolg: Weniger „Ich kann am meisten“, mehr „Ich kann andere wachsen lassen.“

Der Sozialwissenschaftler Arthur C. Brooks beschreibt das in seinem Buch From Strength to Strength sehr treffend:

„Der Schlüssel zum Glück in der zweiten Lebenshälfte ist, rechtzeitig auf die zweite Kurve zu wechseln.“

Was das für die Encore Career bedeutet

Für viele, die in der Mitte des Lebens einen beruflichen Wandel anstreben, steckt in dieser Erkenntnis eine große Chance. Die zweite Kurve lädt uns ein, unser Wissen zu teilen, zu gestalten, zu führen und Bedeutung zu schaffen.

Dr. Karin von Schumann